Als ich mich auf meine Reise nach Hamburg vorbereitete, trug ich nicht nur einen Koffer mit Kleidung bei mir, sondern auch einen mit Erwartungen, Sehnsüchten und Fragen. Was würde mich dort erwarten? Würde ich Anschluss finden, die Sprache bewältigen, mich in einer neuen akademischen Welt zurechtfinden? Der Abschied von meinem Heimatort und den Menschen, die mir nahestehen, war von jener bittersüßen Ambivalenz begleitet, die zwischen Aufbruch und Loslassen oszilliert. Ich erinnerte mich an die vertrauten Gassen, das leise Summen des Alltags – und ich wusste, dass sich etwas verändern würde. Was ich nicht wusste: wie tiefgreifend diese Veränderung sein sollte.
Gleich zu Beginn meines Aufenthalts trat ein Mensch in mein Leben, der sich als eine stille, aber tragende Konstante erweisen sollte: mein Gastvater Norbert. Mit seiner unaufdringlichen Klugheit, seinem literarischen Gespür und seinem warmen Humor öffnete er mir nicht nur sein Zuhause, sondern auch neue Denkräume. Schon am ersten Tag reichte er mir Bücher in deutscher Sprache, sprach mit ruhiger Stimme davon, dass ich „in zwei Monaten fast alles verstehen“ würde – eine Prognose, die mir damals beinahe utopisch erschien.
Doch rückblickend erwies sich dieser Satz als erstaunlich präzise. Mein sprachliches Empfinden entwickelte sich in kleinen, oft kaum wahrnehmbaren Schritten, die sich jedoch zu einem großen Ganzen fügten: Plötzlich erkannte ich Wörter, verstand Kontexte, konnte medizinische Sachverhalte auf Deutsch erklären – und lernte dabei nicht nur eine Sprache, sondern auch mich selbst in ihr neu kennen.
Das Studium an der Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, ermöglicht durch das Copernicus-Stipendium, war geprägt von intellektueller Tiefe, aber auch von methodischer Offenheit. Besonders beeindruckt hat mich die kollaborative Herangehensweise an wissenschaftliche Fragestellungen – ein Kontrast zu der eher individualisierten Lernkultur meiner Heimatuniversität.
Neben den theoretischen Inhalten war es vor allem die klinische Praxis, die meine Perspektive als angehende Ärztin entscheidend prägte. Besonders prägend und zutiefst bewegend war für mich die unmittelbare Interaktion mit den Patientinnen und Patienten während meiner klinischen Tätigkeit am Universitätsklinikum Hamburg. Was anfangs noch von Unsicherheit und sprachlicher Zurückhaltung geprägt war, entwickelte sich rasch zu einem einfühlsamen und vertrauensvollen Dialog zwischen mir und jenen Menschen, deren Krankengeschichten mich weit über das Medizinische hinaus berührten. Es war nicht bloß ein klinisches Lernen, das in diesen Begegnungen stattfand – es war ein gegenseitiges Annähern, ein Zwischenraum voller Menschlichkeit, Verletzlichkeit und aufrichtiger Aufmerksamkeit.
Ich erinnere mich an Gespräche, in denen der Blickkontakt mehr sagte als jedes Wort, an Momente, in denen ich nicht nur eine angehende Medizinerin, sondern vor allem ein Gegenüber war, das zuhören, Trost spenden und einfach da sein konnte. Die Nähe, die in kurzer Zeit entstand, war von jener stillen Intensität, die sich der Sprache manchmal entzieht – und gerade dadurch umso spürbarer wird.
Der Moment des Abschieds jedoch stellte eine emotionale Herausforderung dar, die ich in dieser Form nicht antizipiert hatte. Es war ein Abschied, der nicht von spektakulären Gesten, sondern von leisen Blicken, gedämpften Worten und dem Wissen geprägt war, dass man ein Stück des Weges gemeinsam gegangen ist – und sich nun an einer Kreuzung befindet, an der sich die Wege unausweichlich trennen. Jene schlichte, aber tiefgreifende Erkenntnis, dass man sich wahrscheinlich nie wieder begegnen wird, wog schwer. Und doch trage ich diese Begegnungen weiter in mir, als Erinnerung, als Auftrag, und als eine der kostbarsten Erfahrungen meines gesamten Aufenthalts.
Auch abseits des Klinikalltags war Hamburg für mich ein Ort des kulturellen Staunens. Mit meiner Freikarte besuchte ich regelmäßig Theateraufführungen – von expressionistischen Dramen über zeitgenössische Inszenierungen bis hin zu Stücken von Kafka, dessen Werke mir eine neue Tiefe der deutschen Sprache und Gedankenwelt offenbarten. Ich begann mich intensiv mit deutscher Literatur und Philosophie auseinanderzusetzen, las Texte von Autor:innen wie Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Stefan Zweig, entdeckte dabei Parallelen zu meiner eigenen Geschichte und ließ mich von den Tönen deutscher Komponist:innen durch Konzerte in der Elbphilharmonie tragen. Die Musik wurde für mich ein seelischer Resonanzraum – ein Ort, an dem Emotionen in Klang übersetzt wurden.
Sonntage verbrachte ich oft mit Norbert bei ausgedehnten Frühstücken, die sich mehr wie kleine Rituale als bloße Mahlzeiten anfühlten. Unsere Gespräche reichten von der politischen Gegenwart bis zu literarischen Analysen, stets getragen von gegenseitigem Respekt und ehrlicher Neugier. Und dann waren da die Copernicus-Freunde – junge Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, die sich zu einer Art Wahlfamilie formten. Jeden Freitag begegneten wir einander neu – bei Partys, Diskussionen, Kochabenden. Es waren diese Momente der Leichtigkeit, die das akademisch fordernde Leben ausbalancierten.
Ein weiteres Highlight war die Reise nach Lübeck mit Axel, einen von Copernicus Mitgliedern. In seiner charmanten und zugleich kenntnisreichen Art zeigte er mir seine Heimatstadt, führte mich durch ihre engen Gassen, teilte Geschichten seiner Familie und präsentierte mit Stolz seine Sammlungen – ein Tag, der mir das Deutschland abseits der Großstadt zeigte und mich tief berührte.
Wenn ich nun auf diese Monate zurückblicke, sehe ich nicht einfach nur ein abgeschlossenes Semester, sondern eine Etappe der persönlichen und intellektuellen Reifung. Ich habe nicht nur gelernt, wie man Wissen anwendet, sondern auch, wie man Empathie lebt. Ich habe nicht nur Fragen gestellt, sondern begonnen, meine eigenen Antworten zu formulieren. Dieses Austauschsemester war kein Exkurs – es war ein Wendepunkt. Und ich bin dankbar, ihn erlebt zu haben.